Dies ist ein beliebter Beitrag. DevoRomantiker Geschrieben Dezember 2, 2022 Dies ist ein beliebter Beitrag. Geschrieben Dezember 2, 2022 (bearbeitet) 01 Dass Sieglinde handwerklich begabt war, hatte sie schon oft bewiesen. Als ich sie das erste Mal besucht hatte, habe ich mich in den bequemen Schaukelstuhl gerade zu geworfen, weil wie oft hat man die Möglichkeit dazu, nur um ihn später mit gebührenden Respekt zu betrachten, nachdem sie mir offenbarte, dass sie ihn gebaut hatte. Ich hatte Vorurteile - ganz klar. Eine Frau ihres Alters und Auftreten würde man als durchschnittliche Alt-Stimme im Kirchenchor vermuten. Ihre dicken, rahmenlosen Brillengläser, ihre unaufgeregte Frisur, meistens einen grauen Filzrock gepaart mit einer ebenso verstaubten Strickjacke, das alles ließ sie einen noch mal fünf Jahre auf ihre bestehenden 55 draufrechnen. "Hallo, treffen wir uns heute", schreibt sie mir via SMS. Wir schicken uns SMS weil sie kein Smartphone hat, braucht sie nicht. Ich hatte versucht sie zu überzeugen sich mal einen Messenger anzusehen, weil die Kommunikation dann doch flüssiger gehen könnte. "Wir machen doch nur Treffen ab", hatte sie lakonisch geantwortet. Und das sie immer noch eine Frage stellte, ob wir uns treffen würden, ging zumindest für mich, weit an der Realität vorbei. Schließlich hatte sie da diesen Schlüssel. Über Umwege hatten wir uns kennengelernt. Sieglinde war die Freundin einer Kollegin eines Bekannten mit dem ich gelegentlich unterwegs war. An den Namen ihrer Freundin erinnere ich mich nicht, das ist alles schon eine Weile her. An dem Abend an dem wir das erste Mal einander vorgestellt wurden - wenn man das in der Hitze und Musik eines Pubs so förmlich sagen kann - dachte ich noch, dass die "alte Kirchenschachtel" hier wohl ein letztes Mal versucht etwas nachzuholen, was sie in ihrer Jugend nicht getan hätte und sonst auch nicht. Ihr euphorisches Engagement wirkte aufgesetzt. Auf dem Heimweg hatte sie behauptet, wir hätten den selben Heimweg - ich hatte zu viel Bier. Über den ganzen Gehweg schwankend, ich, begleitet von ihr, nüchtern aber amüsiert, wirkten wir wie ein seltsames Großmutter-Enkel-Gespann das von einer Familienfeier heimwärts zieht. Vor meiner Türe stehend, erinnere ich mich noch, wie sie fragte ob sie kurz bei mir die Toilette aufsuchen könnte - zu diesem Zeitpunkt hatte längst der Alkohol das Steuer in mir in der Hand. "In einer halben Stunde habe ich Feierabend", tippte ich auf das Display meines Handys, sah wie der kleine, animierte Brief kleiner wurde und am digitalen Horizont verschwand. Ich würde lügen wenn ich sagen würde, dass ich mir über ihre Gründe sich mit einem wesentlich jüngeren Mann keine Gedanken gemacht hätte, Tatsache aber ist, dass ich mir das Bild einer vernachlässigten Hausfrau und eine gescheiterte Ehe zusammen gebastelt habe - wie nah oder weit ich von der Wahrheit war, weiß ich nicht. An jenem Abend war sie jedenfalls nicht nur in meine Wohnung gekommen um die Toilette zu benutzen. Auch wenn sie scheinbar den Umgang mit Betrunkenen nicht gewohnt war, hatte sie sich doch auf die Couch gesetzt, während ich mir noch einen Absacker gönnen wollte und den Versuch unternahm eine TK-Pizza "zuzubereiten" (einfach nur aufs Rost schieben und die Klappe schließen bringt nichts, man muss den Backofen schon anstellen). Wir haben geredet. Das heißt : Ich habe vor mich hin gelallt und sie hat immer wieder gelacht und sich dann doch irgendwann ein Glas gegönnt. Feierabend, ich packte meine Sachen, ging. Ich musste den Bus nehmen. Wie so oft schon zuvor fuhr ich raus aus der Stadt, hin zu den Schrebergärten. Hinter dichten Brombeerhecken und einem verrosteten Stacheldraht hatte sie eine kleine Oase im Grünen. Heutzutage würde niemand mehr eine Genehmigung zum Bau solch einer Hütte raus geben. Das kleine Steinhaus aus rotem und von Efeu überwuchertem Backstein diente vor langer Zeit einmal Bahnwärtern - die Gleise hatte man vor über 60 entfernt, damals jedoch hatte hier noch jemand gesessen der Güterzüge und Personenwagen auf die entsprechenden Gleise lenkte. Unvorstellbar, dass damals die Weichen noch händisch eingestellt wurden. Jetzt war davon nichts mehr zu sehen. Sieglinde hatte sich einige Eisen- und Bahnstücke als Reliquien gesichert. "Hallo", grüßte sie mich in ihrer ruhigen Tonlage. Sie trug lange Rosenhandschuhe, eine Gartenschere und obwohl es sommerlich warm war, hatte sie eine beige Weste bis unter das Kinn zugezogen. Ihr geblümter Strohhut ließ sie provinziell wirken. Dann lächelte sie und mit einer gewissen Vorfreude in der Stimme : "Ich habe das Gleisbett neu bezogen" - ein Insider. Unser Insider. Alkoholbedingt fehlen mir große Teile unseres ersten Abends. An Details erinnere ich mich nicht, sie war es allerdings die gefragt hatte ob sie sich mein Zimmer ansehen könne - als wären wir ***ager gewesen. "Ich habe einen Garten, vor der Stadt", hatte sie mir erklärt oder zumindest meine ich mich daran zu erinnern. "Dort steht auch eine Hütte und ich bin dort gerne an den Wochenenden... Naja, die Brombeeren machen viel Arbeit, aber...". Früher, sehr viel früher, waren die Gleise am Bahnhäusschen vorbei gegangen, ein paar Meter weiter davon entfernt lag die Weiche. Im Zuge (Wortspiel!) der Elektrifizierung waren die alten Dieselloks ausgemustert worden und einige hundert Meter weiter östlich war eine neue Gleisanlage gebaut worden - "neu", also in den 70ern. Das alte Gleisbett wurde dann gegen Ende nur noch für den Güterverkehr, dann nur noch als touristische Attraktion (mit der historischen Eisenbahn fahren) bis es schließlich und schlussendlich völlig aufgegeben wurde. Der Denkmalschutz habe zwar vorgeschrieben wenige Meter der Gleise neben dem Häuschen zu erhalten, Sieglinde meinte jedoch, dass sie nicht glaube, dass jemand von offizieller Seite noch von der Existenz des Hauses wisse. Und irgendwann hatte sie dann den ersten Stein gesetzt. Ich stand schon oft in dieser kleinen Halle hinter dem Backsteinhaus - und genauso oft lag ich dort auch - und es ist immer noch unglaublich, dass sie diese etwa zehn Meter lange und drei Meter hohe Halle über die restlichen Meter der übrigen Gleise gebaut hatte. Und dann fiel mein Blick auf einen Eisenring in der Mitte der Gleise - dieser war neu und ich konnte erahnen wofür er gedacht. bearbeitet Dezember 2, 2022 von DevoRomantiker Rechtschreibfehler gleich im ersten Wort
Ic**** Geschrieben Dezember 3, 2022 Geschrieben Dezember 3, 2022 Nette Geschichte.. ein bisschen darauf achten wenn du zwischen den Charakteren wechselst.
DevoRomantiker Geschrieben Dezember 3, 2022 Autor Geschrieben Dezember 3, 2022 vor 2 Stunden, schrieb Ichbin-ICH: Nette Geschichte.. ein bisschen darauf achten wenn du zwischen den Charakteren wechselst. Danke für die Rückmeldung - ich werde darauf achten
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